„Die modernen Kata haben den Bezug zu einem tatsächlichen und möglicherweise bewaffneten Gegner verloren. Es ist für das Verständnis des »alten« Karate und um es als Kampfkunst zu fühlen und auszuführen notwendig, den Gegner wieder in die Kata zurück zu bringen. Der Gegner sollte nicht nur im Geiste präsent sein, sondern in jede Vor- und Zurückbewegung und auch in jede Winkelveränderung des Körpers einkalkuliert sein. Bewegungen sollten entsprechend nicht rotierend, groß oder frontal ausgeführt werden (Hanmi – den halben Körper zeigen). Kata verfolgen das Konzept der schmalen und direkten Linie (Enbusen und Seichusen) zum eigenen Schutze und zum Verbergen der eigenen Intention (Sen). Hier liegt das Wesen der Bewegungsmotorik verborgen – die Seele der Kata und des Karate der Shorin Linie. Bereits Itosu Anko begann um 1900 den Gegner aus den Kata zu entfernen, als man begann, Karate in Vereinen oder Schulen zu unterrichten.“ (T. Oshiro)
Erfahrung und Wissen in Bewegung…
Kampftaktik, -motorik und -technik wurden in China wie in Japan gerne in Form von festgelegten Abläufen verdichtet. Die Japaner nennen diese Formen Kata. Erfahrung und Wissen durch festgelegte Bewegungsmuster oder ritualisierte Tänze weiter zu geben, ist eine Methode, die so alt ist, wie die Menschheit selbst. Diese Methode ist auch heute noch weitaus tiefer in die Gesellschaft integriert, als vielen bewusst ist. In der Geschichte der Menschheit hat sie sich als wirksam erwiesen und ist daher in vielerlei Facetten in allen Kulturen vorhanden. Auch die okinawanischen Meister haben diese Methode gewählt, um das Wissen an diejenigen weiter geben zu können, denen sie vertrauten. Bücher oder umfangreiche Konzepte nieder zu schreiben, war nicht notwendig und hätte auch nicht dem Lernkonzept eines derartigen körperlich-mentalen Anspruches entsprochen. Eine Kampfkunst kann nicht anhand von Skizzen oder Schriften erlernt werden. Die Kata zusammen mit der Anleitung der erfahrenen Lehrer sowie weitere Übungsmethoden waren und sind ein ausgezeichnetes Mittel, die Idee und das Gefühl der Kampfkunst zu vermitteln.
Jagen und Kämpfen als Vorraussetzung für das Überleben, waren ein wesentlicher Teil einer jeden Kultur. Menschen machten Erfahrungen in tatsächlichen Kämpfen gegen andere Menschen oder gegen Tiere. Der Ausgang eines solchen Kampfes zeigte, welche Methoden wirkungsvoll waren und welche nicht. Es liegt nahe, dass man die unerfahreneren Mitgliedern des Stammes, die erprobten Methoden als »Trockenübung« üben ließ. So konnten sie sich auf reale Situationen vorbereiten. Kindern ist die Fähigkeit angeboren, durch Nachahmung zu lernen. Diese Fähigkeit bedeutet Schutz und Training für ein eigenständiges Leben. Oftmals flossen die Kampfmethoden eines Volkes auch in dessen Volkstänze ein. Hier macht Okinawa keine Ausnahme. Die Kampfkunst spiegelt sich recht deutlich in verschiedenen, teils sehr energiegeladenen einheimischen Volkstänzen wieder.
Das Nachahmen ist ein wesentlicher Prozess, um im (Über-)Leben(-skampf) bestehen zu können. Es ist natürlich nicht die reale Situation selbst. Eine Kata ist entsprechend nicht der Kampf selbst. Es steht daher nicht mal unbedingt ein muskelbetont kraftvolles Ausführen im Vordergrund, es ist ja kein physischer Gegner präsent. Eine Kata lebt von dem, was im Hintergrund antrainiert wird, ihrer inneren Dynamik, der Kontrolle des eigenen Körpers, dem Schutz der eigenen Schwachstellen in der Bewegung (Seichusen), dem schmalen Bewegen entlang der Linien des Schrittdiagramms (Enbusen), dem Vermeiden jeder überflüssigen Bewegung, stets für die nächste Bewegung vorbereitet sein.
Das Medium Kata…
Wir stellen die Kata entsprechend der Methodik des alten Karate in den Mittelpunkt des Trainings. Kata enthalten vielfältigste Strategien und Techniken. In der nötigen Tiefe gelehrt, hat man mit der Kata den notwendigen Stoff, um ein gesamtes Trainingprogramm zu gestalten. Dazu gehören abgesprochenes und freieres Partnertraining, vereinfachte Übungen zum Verständnis komplexer Katabewegungen sowie Pratzentraining. Unser Anspruch ist, Kata, Kihon und Kumite nicht zu trennen. Für weitere Fortschritte reicht es irgendwann nicht mehr aus, nur einmal die Woche im Dojo zu trainieren. Das Training sollte auch in den Alltag integriert werden. Das muss keine ganze Stunde pro Tag sein. 15 Minuten Täglich reichen bereits. Man könnte sich ein Ritual einrichten und die nächste Prüfungskata oder die eigene Lieblingskata morgens und abends ausführen, am besten vor einem Spiegel. Wir nehmen uns beim Training regelmäßig bestimmte Kata vor und trainieren Kihon und Kumite sowie das Bunkai entsprechend der vielfältigen Möglichkeiten, die sich ergeben.
Kata auf traditionelle Weise verstanden, lehren, Technik und Energiegewinnung in den Bewegungen und im Inneren des Körpers zu verbergen. Das Prinzip des Verbergens führte allerdings dazu, daß große Teile der in den Kata verborgenen Möglichkeiten heute gar nicht mehr bekannt sind. Die Aufmerksamkeit wurde fast zwangsweise verlagert, auf die äußere Bewertung von Kraftausdruck, Haltung, Endpositionen und Winkelmaßen. Einher mit diesem Kapitel gehen die „Prinzipien des Karate“.
Enbusen – die Linie der Kata…
Den Bo kann man sich aufgrund seiner Gestalt einfach als Linie vorstellen. Als Linie hilft er uns auch im Karate ein Gefühl für die „Linie“ der Kata zu entwickeln. Der Bo wird dicht am oder gar unterhalb des (Ober-)Körper, sozusagen „innen“ am effektivsten (auch durch die Kata) geführt. Ohne weitläufige Armbewegungen, mit minimalen Ellbogenbewegungen. Er wird nahe der Mittellinie der Kata geführt, auf der man sich entlang ihres Enbusens (Ablaufliniendiagram) bewegt. Anfängern ist eine solche Art der Bewegung zunächst unmöglich machzuahmen. Viel zu weit fallen Ausholbewegungen noch aus, viel zu grob ist die Schritttechnik und das gesamte Handling zur Krafterzeugung. Der Bo ist jedoch ein guter Lehrer, denn er zeigt dann als zur Linie der Kata versetzte Linie an, dass wir uns nicht optimal bewegen. Dies kann auf das Karate übertragen werden. Die alten Meister legten daher größten Wert auf das Gefühl für die Mittellinie beim Ausführen der Kata (Seichusen/ Vitalpunktführung entlang des Enbusen/ Schrittdiagram).
Enbusen und Seichusen kann man 1. erkennen lernen, 2. das Gefühl dafür entwickeln, 3. es bei jeder Technik/ Bewegung…, 4. am Partner und …5. am Gegner umsetzen können. Bunkai werden aus den Katabewegungen isolierte Anwendungen für bestimmte Situationen genannt. Die Prinzipien des Enbusen und Seichusen gelten jedoch immer, sie bedeuten Selbsschutz der eigenen Hauptvitalpunktlinie in jeder Bewegung. Dieser in Vergessenheit geratene Aspekt ist noch wesentlicher als ein Training auf Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit, welches für den sportlichen Wettkampf die wesentlichen Aspekte darstellt. Auf Kraft und Schnelligkeit zu trainieren und sportliche Deckung und Distanz einzunehmen, führt nämlich zum Wettkampf – zum sportlichen Vergleich. Der Schnellere oder Stärkere gewinnt. Altes Karate benutzt dagegen Tricks und innere Dynamik, um in nicht wettkampfkonformen Situationen bestehen zu können. Darauf bereiten die alten Kata vor. Modernere Kata sind verändert, vereinfacht oder begradigt worden und/ oder unterlagen wettkampfbedingtem Tuning. Beispielsweise springt man in der moderneren Variante der Heian Godan, während man sich in der alten Version aus dem Stand fallend dreht, um einen gegriffenen Gegner zu Boden zu werfen.
Jede Kata hat ein ihr eigenes Schrittdiagram. Es gibt Serien von Kata, die einem ähnlichen Schrittdiagramm folgen. Beispiele sind die 3 Kihon Kata oder die 5 Pinan Kata (Heian Kata). Das Schrittdiagram wird im Shorin-Ryu als Linie dargestellt, auf der man sich bewegt.
Diese Linie wird Enbusen genannt und hat eine zentrale Bedeutung für das Katatraining. Dieser Linie passt man Körper und Technik an, man versucht zur Linie zu werden und damit nur ein schmales Ziel zu bieten. Schafft man es, sich schmal entlang der Linie zu bewegen, kann man den eigenen Körper leichter vor direkten Angriffen schützen. In den Kata gehen wir oftmals offensiv vor, somit ist nicht nur eine schmale und schützende Endhaltung wichtig, sondern auch in unserer Bewegung wollen wir vor Treffern zu vitalen Stellen geschützt sein.
In der Kata gilt es die Fähigkeit zu entwickeln, schnell und direkt Wendungen oder Verlagerungen des Körpergewichts gleichzeitig mit verschiedensten Armtechniken ausführen zu können. 270 Grad Wendungen der Kata können als verschiedenste Würfe eingesetzt werden. Die meisten während einer Wendung ausgeführten Techniken können als Angriffe gegen Schwachstellen des Gegners ausgeführt werden, nie jedoch sollten sie reine Blocks sein. Eine Ausnahme wäre es, würde der Unterricht Kindern zur Körperertüchtigung dienen (siehe im nächsten Absatz und bei „Väter des modernen Karate“). Reine Blocks nehmen dem Gegner die Angriffsinitiative nicht ab. Nach diesem Kriterium können sie beurteilt werden. Braucht es nach dem Block noch einen neu startenden Konter (Gyaku-Zuki), dann könnte auch der Gegner auf diesen Taktschlag eine weitere Technik ausführen. Beim Verteidigen des eigenen Lebens will man gegen einen unberechenbaren und unbekannten Angreifer keinen Schlagabtausch, oder Block/Konterversuch. Man will den Gegner in einem Zuge und ohne Unterbrechung durchqueren. Kata ist dem freien Kumite sehr ähnlich in dem Punkte, dass man nicht davon ausgehen kann, der gegnerische Angriff würde nach 1-2 Techniken stoppen und auf unseren sauber gesetzten Konter warten.
Moderne Kata verlieren den Gegner. Die Angreifer sind während des Laufens einer Kata lediglich imaginär anwesend. Dennoch darf man den gedachten Gegner nicht vergessen, man darf ihn in der Kata nicht „verlieren“. Richtungsänderungen oder Wendungen müssen dem Angriff entsprechen. Moderne Kata wenden oftmals in einer veränderten Art und Weise, so daß die Technik am Richtung Körpermitte oder zum Kopf angreifenden, imaginären Gegner vorbeiläuft. Die Technik wird dann dort hin platziert, wo kein gegnerischer Angriff landet. Eine 2. Enbusenlinie entsteht, welche nicht dem Gedanken der Bedeutung des imaginären Gegners entspricht. Dies kann vermieden werden, wenn beide Beine sich die Bewegungsarbeit für die neue Ausrichtung teilen. Gleichzeitig halbiert sich der zu gehende Weg, den bei der modernen Methode ein Bein gehen müsste.
Während der gesamten Kata mit all ihren winkligen Blickwendungen sollte der Kiefer stets leicht eingezogen sein und der Kopf nicht in Schräglage geraten. Ein Fehler, den man häufig sieht. Würde man am abstehenden Kinn getroffen, dann wird das Gehirn und die Wirbelsäule viel stärkeren negativen Effekten ausgeliefert. Kata trainieren mehr Selbstschutz als als nur durch Gliedmaßen zu erreichen wäre. Das Gefühl, als würde man mit dem Kinn und nicht mit den Augen gucken, sollte sich einstellen.
Kata beinhalten die Techniken des Karate (und Kobudo), trainieren jedoch auch die zugrunde liegende Dynamik und Bewegungsmotorik dieser Kampfkunst. Das Wissen um diese traditionelle Motorik ist im Rahmen der mit der Massenverbreitung einher gehenden Systematisierung und Begradigung der Kata vereinfacht weiter gegeben worden. So mancher fortgeschrittene Karateka ist auf Mutmaßungen angewiesen, wenn es um die Hintergründe der Technikvielfalt und Motorik der Kata geht. Viele Meister haben notgedrungen eigene Interpretationen entwickelt. Viele verschiedene Stile entstanden. Techniken, Stände und Prinzipien wurden verändert. Wir haben es uns zum Ziel gemacht, zur originären Motorik zurück zu finden und die Bedeutung rund um den Kataaufbau und ihrer Techniken zu erforschen, uns anzueignen und weiter zu geben. Denn das alte Karate war bereits eine hochentwickelte Kampfkunst. Durch den Massenunterricht und die Anpassung an ein Sportkarate gingen grundlegende Prinzipien verloren, einschließlich des „Gegners“ in den Kata.
Keine Lehrbücher im herkömmlichen Sinn…
Dieses tief in die Bewegungsmotorik des Menschen eingreifende und dessen Motorik grundlegend verändernde Wissen, hätte man nicht in Manuskripte oder Bücher verpacken können. Es sind sehr wenige Schriften von China nach Okinawa gelangt (Bubishi und zwei Schriften zur inneren und äußeren Veränderung des Körpers auf Dharuma zurückgehend). Diese enthielten keine Kataabläufe, jedoch einige Abbildungen von Anwendungsbeispielen. Viele Autoren schrieben im 20. Jhdt Bücher, in denen sie Kataabläufe in Einzelbildserien darstellten. In manchen dieser Bücher ist zu lesen, die alten Meister hätten kaum etwas niedergeschrieben, weil die Aufzeichnungen in falsche Hände hätten fallen können. Jedoch ist dies nur ein zweitrangiger Grund. Es wäre überhaupt nicht förderlich gewesen, Prinzipielles nieder zu schreiben, da diese Lehre durch die lebendigen Bücher namens Kata und die persönliche, praktische Anleitung weiter gegeben wurde. Eine Kata bloß vom Ablauf her ausführen zu können, bleibt eigentlich Gymnastik. Erst Wissen um die zugrunde liegende, innere Motorik, ergibt die korrekte äußere Ausführung.
Wesentlicher noch als die Endhaltungen einer Technik, auf die man manchmal in der Moderne den Fokus setzte, ist das, was dazwischen in der Bewegung passiert.
Es sind Fragen wie: Was passiert zwischen den Endhaltungen? Der Fokus sollte also nicht auf einzelnen Endhaltungen liegen, sondern auf der Frage, wie man dort hin gekommen ist. Wo bin ich und wo ist der Angriff? Schütze ich meine Schwachstellen (Seichusen) in der Bewegung entlang der Kata (Enbusen)? Halte (und damit schütze) ich mein Kinn richtig, auch bei und nach Blickwendungen? Kann ich in der Bewegung Techniken ausführen oder kommen diese erst spät zum Ende der Bewegung? Was verbirgt die Kata auf dem Weg von einer Technik zur anderen? Welche Prinzipien machen es dem Gegner schwer, meine Intention und Bewegung zu erkennen? Wie finde ich zu einem intuitiven Gefühl für die vielen verschiedenen Anwendunsmöglichkeiten einer Bewegung?
Der äussere Ausdruck der vorgeführten Kata entsteht somit nicht durch stark sichtbare Muskelspannung, sondern durch den gezielten Kontraktions- und Streckeinsatz des Körpers, seiner Gliedmaßen und der Unterstützung durch jedes Gelenk. Pauschal möglichst viele Muskeln zum Ende der Technik anzuspannen, unterbindet gleich mehrere der genannten Prinzipien, bremst die aufgebaute Beschleunigung anstatt sie bis zum Schluss in den Gegner abzugeben und behindert den Einsatz der Gelenke im entscheidenden Moment. Die ausgeführten Techniken und Wendungen einer Kata beinhalten keine festgelegten Techniken. Nahezu jede einzelne Katatechnik bereitet auf ihren Einsatz als Schlag-, Stoß-, Block-, Ableitung-, Hebel-, Antihebel oder Wurftechnik vor. Die Techniken sind also breitgefächert einsetzbar. Viele Anwendungen gingen durch den Fokus auf den Wettkampf verloren. Dadurch wurde die einstige Technikvielfalt des Karate auf einige wenige Schlag-/ Stoß- und Blocktechniken oder deren Kombination reduziert.
Beispiel Naifanchi Kata…
Diese sehr bekannte Katareihe heißt im weit verbreiteten Shotokan Karate Tekki Shodan, Nidan und Sandan. Diese Kata wurden von den älteren Versionen Naifanchi Shodan, Nidan und Sandan abgeleitet.
Der Name »Tekki« (eiserner Reiter) deutet an, dass man trotz Ausführung von verschiedenen Techniken in verschiedenen Winkeln, den Körper abwärts des Gürtels une Naifanchi Shodan wird als die Grundlagenkata des Karate überhaupt bezeichnet, da sie die wesentlichen Aspekte trainiert, die dem Karate zugrunde liegen. Sie lehrt verschiedene Körperbereiche voneinander getrennt bewegen zu können.Moderne Versionen der Naifanchi Kata werden »Tekki« (eiserner Reiter) genannt. Gichin Funakoshi führte neben äusseren Änderungen auch Namensänderungen der Kata durch. Er wollte den Kata Namen geben, welche ihre jeweiligen Prinzipien bzw. Kampfstile widerspiegeln sollten. Ster Kontrolle haben sollte. Bewegungen des Oberkörpers sollen sich nicht auf den Stand auswirken oder von diesem abhänging sein. Die Arbeit des Oberkörpers verläuft sich entprechend im Bereich des Hara (etwa Bauchnabelhöhe) nach innen. Eine Hüftrotation kommt nicht vor, da diese für effektive Techniken nicht nötig ist. Bei genauer Analyse stellt sich heraus, dass Rotationsbewegungen im Hüftbereich die Kraft auch nicht in eine gerade Richtung leiten, sondern eher in eine Kreisbahn. Karate zeichnet sich jedoch durch sehr direkte und geradlinige Techniken und Körperbewegungen aus. Der ursprüngliche Stand in der Naifanchi »Naifanchi Dachi« (im modernen Karate wird der breitere Kiba Dachi benutzt) erinnert an das Sitzen auf einem Pferd. Schafft man es nicht, den Körperbereich ab Beckenhöhe abwärts zu kontrollieren, dann würde das imaginäre »Pferd« nicht wissen,wo es hinreiten soll. Diese Analogie zu dem Ritt auf einem Pferd nutzte Gichin Funakoshi, als er die Kata für das Shotokan-Karate umbenannte in »Tekki«. Die Naifanchi Kata besitzt sehr viele Techniken für die Nahdistanz. Ihre Prinzipien sind vielseitig anwendbar.
Sie enthält neben offensichtlichen Nahdistanzschlägen auch versteckte Schläge und Wurfansätze. Reine Blockbewegungen enthält sie kaum, da in der nahen Distanz die Zeit nicht da ist, um mit einem Block zu reagieren und dann erst in den Angriff überzugehen. Moderne Varianten dieser Kata haben aus ihren Techniken fast durchgehend reine Blocktechniken gemacht. Derart verändert ist das Training dieser Kata nicht mehr für den ursprünglich zugrunde liegenden Zweck tauglich. Irrtümlicher Weise wird oft behauptet, sie basiere auf einem Kampf, wo man mit dem Rücken zu einer Wand steht. Wahrscheinlich wurzelt diese Interpretation auf der Tatsache, dass die Naifanchi mit der Körpervorderseite nahe an einer Wand trainiert wurde, um den direkten Weg der seitlichen Techniken zu trainieren. Es bestehen heute viele Halbwahrheiten in Bezug auf die Interpretation von verschiedenen Kata. Die Entstehung der Irrtümer lässt sich oftmals nachvollziehen, wenn man das alte Karate studiert.
Die Naifanchi Kata Serie ist berühmt geworden, weil der durch seine Kampfkraft bekannt gewordene okinawanische Meister Chokki Motobu (jap. 本部 朝基, 1870-1944) geb. in Akahira, nahe Shuri auf Okinawa) diese Kataserie favorisiert hat. Er sagte: “Es langt, die Prinzipien der Naifanchi Kata zu beherrschen, dann beherrscht man auch das Karate und kann kämpfen.”
Motobus Bekannheit förderte ein Sieg in Japan, den er in einem Vergleichskampf, offenbar einem frühen »Mixed Martial Arts« Konzept nicht unähnlich, gegen einen nicht japanischen Profiboxer um 1921 erlangte. Motobu war zu der Zeit bereits Mitte 50, während der Boxer deutlich jünger war. Motubo trainierte sehr viel abgesprochenes Kumite. Man sagt von ihm aber auch, dass er keiner Schlägerei auswich, um seine Techniken zu testen. Diese Eigenschaft entsprach natürlich ganz und gar nicht dem, was sich Funakoshi Gichin als Idealbild eines Karatelehrers vorstellte. Zu dieser Zeit lehrten die durchaus konträren Persönlichkeiten Motobu und Funakoshi ihr Karate auf der Hauptinsel Japan. Die über den Kampf berichtende Zeitung »Kingu« bildete irrtümlich Gichin Funakoshi im Ring stehend ab. Mehr zu Motobu.
Kampkunst nur durch Kata lernen?
Auch wenn die Versprechen manch eines Produzenten von Lehrvideos anderen Anschein erwecken, genügt das Wissen um den puren Ablauf einer Kata natürlich nicht, um wirksame Kampftechniken und Bewegungsdynamiken zu entwickeln. Wissen um die Techniken und tief in die Bewegungsdynamik eingreifende Übungen am Partner, Training an Schlagpolstern sowie spezielle Koordinations- und Kräftigungsübungen gehen mit dem Katatraining Hand in Hand. Somit ergibt sich die Art und Weise der Kataausführung erst aus dem kompletten Trainingsprogramm. Heute unterrichten nur noch wenige Lehrer die ausgefeilten alten Prinzipien rund um die Kata, welche das Potential haben, sich mit ihrer Hilfe im Angesicht einer realen Konfrontation auch gegen körperlich überlegene Gegner nützliche Verhaltensweisen antrainieren zu können. Das Training der Kata sollte nicht nur auf einen dynamischen äußeren Eindruck fixiert sein. Auch sollten die Bewegungsmuster und Körperdynamiken, die man in der Kata trainiert nicht geändert werden müssen, wenn es an deren Anwendung gegen einen Gegner geht (Bunkai). Dies jedoch sieht man heute häufig, da im Rahmen der sportlichen Weitergabe des Karate die äussere Form wichtiger als die ursprüngliche Funktion wurde – »Form over function«.
Karate lehrt uns den Zugang zu unserem und dem Körper des anderen zu beherrschen. Wir wollen, außer zum Zwecke der bewussten Täuschung, keine Lücke zu unseren Schwachstellen entblößen, in die der Angreifer direkt vordringen könnte. Das alte Karate kennt keinen Block-Konter Rhythmus. Kann man dem Angriff nicht anderweitig entgehen, muss dem Angreifer die Initiative sofort abgenommen und der Kampf beendet werden. Manchmal wird ein populäres Prinzip „Ikken Hissatsu“ zu sehr darauf bezogen, in der Lage zu sein, mit einem Schlag „töten“ zu können. Das führt dazu, dass der Fokus auf einen einzelnen Schlag übereuphorisiert wird. Dieser Gedanke geht auf den Schwertkampf zurück, jedoch ist die Idee für das Karate eher im Grundsatz „Mit einer Aktion den Kampf zu beenden“ zu finden. Dies kann durchaus eine kurze Aneinanderreihung von Techniken sein, vom Schlag bis hin zum gleichzeitigen Eindringen in die Stellung des Gegners und des zu Boden bringens. Die alten Kata sind entsprechend voll mit eindringenden Aktionen und Prinzipien, welche dieses Eindringen für den sich Wehrenden so ungefährlich wie möglich, für den Aggressor jedoch so gefährlich wie möglich zu gestalten. Da die Kata für das unerfahrene Auge vieles verbergen und aufgrund der Umstände, ist beim Übergang des Karate vom privaten Unterricht hin zu öffentlichen Gruppen und dem Schulsport ein großer Teil ihres Wissens in Vergessenheit geraten. Die Technikvielfalt der Kata ist immens und beinhaltet Techniken und Bewegungsprinzipien für alle möglichen Formen des Entkommens bzw. der Beendigung einer Konfrontation. Jedoch sind die Kata, wenn sich auch komplex anmuten, nach einem minimalistischen Muster gestrickt. Dieses schafft eine große, situationsabhängige Flexibilität in der praktischen Anwendung der Techniken und beschränkt sie nicht auf eine einzige Anwendung. Die meisten Techniken finden in der Bewegung statt und nicht erst am Ende des Schrittes. Die Bewegungsdynamik ist im Körper verborgen, um dem Gegenüber möglichst wenig Informationen anzuzeigen.
Eine weitere, wesentliche Veränderung in Bezug auf die Techniken der Kata fand in der Moderne (Karate im Schulunterricht ab 1905 und später Verbot aggressiver Kampfkünste durch die USA) statt, woraufhin die Techniken der Kata ihre aggressive (sollen sie uns doch schützen) Natur verloren und eine Defensivierung erfuhren. Die Techniken wurden in vereinfachte Kategorisierungen eingeteilt. Viele Techniken bekamen Namen wie „Uke – Block“ und wurden ihren vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten beraubt, zu einem „Block“ degradiert. Annahmen, das „Karate immer mit einem Block beginnen müsse und reines Blocktraining wesentlich sei“ hielten Einzug in das kollektive Karatebewusstsein. Gerade den reinen „Block“ gab es im alten Karate jedoch nicht, da er keine sicheren Vorteile für den weiteren Kampfverlauf bringt. Die Kata als Basis warnt davor deutlich, denn in der Kata gehen wir in der Regel direkt oder in bestimmten Winkeln vor, nicht jedoch zurück. Die Erklärung ist der ursprünglich immer auch enthaltene Angriff. Eine rein defensive, womöglich auch noch im Rückwärtsgang stattfindende Aktion, bringt im Angesicht eines unausweichlichen und brutal beginnenden Aktes physischer Gewalt nur Nachteile mit sich. Ein Block führt dazu, dass der Angreifer seinen Angriff fortsetzen kann und der Blockende aufholen muss, um dem Angreifer die Initiative abringen zu können.
Darauf zu vertrauen, der Block würde so hart landen, dass ein adrenalingeladener Agressor auf die Fortsetzung seines Angriffs verzichtet, ist absurd und gefährlich. Verteidigungs- und Angriffsaspekt ergeben sich aus der gesamten Bewegung der Technik und nicht aus ihrer Endhaltung. Jede Aktion im (alten) Karate und in seinen Kata trägt einen Angriff in sich, der das Potential hat, dem Gegner die Angriffsinitiative sofort abzunehmen. Über die folgeträchtige und moderne Entscheidung, dass Karate mit einem Block beginnen müsse, schreibe ich hier (2. Regel Funakoshis „karate ni sente nashi“) mehr. Da das Karate in den Unterricht okinawanischer Schulen eingeführt wurde, noch bevor es zur Hauptinsel Japan gelangte, wurden bereits um 1905 deutliche Veränderungen des öffentlichen Karate eingeführt. Wer die ursprüngliche Idee von Seichusen und Enbusen zu beherrschen lernt, versteht den Kern des alten Karate, erkennt den Sinn der Kata und Haltungen und auch die dahinter stehende Lebensphilosophie.