Im September 2019 betrat ich das Budokan mit der oberen Etage als Ziel. Hier fand das morgendliche Instruktorentraining bei Oshiro Shihan statt. Im Vorbeigehen schaute ich flüchtig in den Dojoraum der unteren Etage und sah einen älteren Sensei Iaido mit nur einem Schüler trainieren. Ich selbst beschäftige mich seit vielen Jahren mit Muso Shinden Ryu Iaido unter Cornelius Lockau Sensei. Hamamoto Sensei sah mich, nahe der Eingangstüre stehend, seinen Unterricht beobachten. Er drehte sich daraufhin zu mir und verbeugte sich.

Eine unerwartete Geste, die ich etwas überrascht erwiderte. Nach kurzer Zeit sah er, dass ich mich immer noch nicht vom Fleck bewegt hatte. Daraufhin kam er zu mir. Dem Augenschein nach, musste er bereits sehr alt sein, dennoch war er voller Vitalität. Die Freude an der Kampfkunst schien aus jeder seiner Bewegungen heraus. Er sprach leider kein Englisch, reichte mir jedoch sein Schwert. Diese Offenheit überraschte mich. Sein Schüler konnte ein wenig Englisch und wir unterhielten uns kurz. Ich wollte ihr Training nicht unterbrechen. Die kurze Unterbrechung schien beide jedoch nicht zu stören.

Der Kontakt blieb erhalten und nun hatte ich die Gelegenheit für 6 Tage mit Hamamoto Hisao Sensei im Privatunterricht zu trainieren. Die Kata beispielsweise der Hachiman Ryu Reihe und vieles Weitere rund um das Iai, waren anders, als ich es bis dato kannte. Hamamoto Sensei zog vor vielen Jahrzehnten nach Okinawa, entstammt einer Samurai Familie und lehrt einen sehr realitätsbezogenen Weg des Schwertes. In seinem Besitz befinden sich etliche Lang- und Kurzschwerter, welche bis zu 700 Jahre alt sind. Sie wurden in Familientradition immer weiter gegeben, zusammen mit der Lehre. Wer mehr Details über Hamamoto Sensei und dessen Kata (wie z.B. Goō, Mugai oder Hachiman Ryu) erfahren möchte, möge nach Andreas Quast googeln. Andreas ist ein langjähriger Schüler Hamamotos. Durch seine Praxis des okinawanischen Karate und Kobudo und durch seine interessanten Recherchen und Bücher rund um die Kampfkünste, ist er eine wesentliche Instanz in Europa.

Wenn Hamamoto Sensei eine Kata beginnt, ist ihm sein Alter von über 80 Jahren nicht anzumerken. 2 tiefe und genussvolle Atemzüge (es könnten ja einem Gegner gegenüber stehend die letzten sein) und er geht vorwärts in einer besonderen und schwer zu beschreibenden Art. Als wäre er auf alles gefasst, gleichmütig dem gegenüber, was gleich passieren mag. Diese Art der Kata mit dieser Geisteshaltung, welche sich in die körperliche Haltung überträgt, versetzt einen in den Moment, ohne Gedanken an Vergangenheit oder Zukunft. Eine heitere Gelassenheit schimmert durch, dem möglichen Schicksal trotzend. Diese positive Energie und die Bedeutung des „Moments“ zu erleben, kann uns die Kampfkunst beibringen. Solch eine Haltung Auge in Auge mit dem anderen aufrecht erhalten zu können, kann den Kampf bereits im voraus entscheiden. Im besten Fall kommt er dadurch gar nicht erst zustande.

Funakoshi berichtet in seinen Büchern von einer Begegnung zwischen Matsumura Sokon und einem Herausforderer. Diese wird durch Matsumuras geistige Haltung, manifestiert in seiner körperlichen Ausstrahlung, kampflos zu seinen Gunsten entschieden.

Trotz seiner ansonsten sehr freundlichen Art, ist Hamamoto beim Training sehr aufmerksam und an den ersten Trainingstagen unglaublich streng und fordernd. Die Art und Weise, Obi und Hakamaknoten zu binden war mir neu, ebenso wie Noto und Chiburi (das Wegstecken des Schwertes) oder gar das Ziehen (Nukitsuke) des Schwertes auszuführen sind. Jede Bewegung ist darauf bezogen, sich stets zu schützen oder die Klinge blitzschnell wieder frei zu bekommen, falls der zu Boden gebrachte Gegner doch noch einmal zum Schnitt ansetzt.

22 Kata gespickt mit mir unbekannten technischen Feinheiten prasselten auf mich ein. Entsprechend oft schaute ich Hamamoto Sensei einfach nur verwirrt an, anstatt seinen Katabewegungen zu folgen. Meine schwachen Kenntnisse der japanischen Sprache halfen kaum weiter. Das Tempo des Unterrichts war gefühlt 3 Gänge zu hoch, dennoch faszinierend. Eine anstrengende Mischung aus Dankbarkeit über das Einzeltraining, der Freude am Umgang mit den alten Schwerten und absoluter geistig-körperlicher Überforderung stellte sich bald ein. Ich blieb dabei, diese Entscheidung stand fest. Ab dem 3. Tag veränderte sich das Training und es waren nur noch die positiven Gefühle da. War es zuvor ein Test, ob der interessierte Schüler es wirklich ernst meint? Es wäre verständlich, denn ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine erhaltenswürdige Perle der traditionellen Kampfkunst, die nur im persönlichen Kreise weiter gegeben wird. Daher ist es zu überlegen, in wen man seine Zeit als Sensei investiert. Welcher Lehrer kennt es nicht – Oftmals kommen begeisterte Interessenten ins Training und nehmen Aufmerksamkeit und Zeit ein, nur um nach einigen Wochen zu sagen „es ist doch zu anstrengend, ich höre auf“. In dem Fall hätte man seine Aufmerksamkeit und Zeit lieber den Schülern zu Gute kommen lassen sollen, von denen man weiß, dass sie den Wert der Kunst erkannt haben und die Mühen des Trainings mit Freude auf sich nehmen.

Der Stil basiert aufgrund der familiären Samurailinie auf sehr realistischen Gesichtspunkten. Wie auch beim Karate oder Kobudo geht es immer um den Ansatz, wie man die Faust, Technik oder Waffe so an den Gegner annähren kann, dass er den Ansatz nicht und den Angriff erst zu spät erkennt. Bezogen auf das Schwert ist besonders die Bewegung der das Schwert ziehenden rechten Hand am deutlichsten sichtbar.
Nach anfänglicher Verwirrung und einiger Überlegung um die mir bis dato unbekannte Art des Einsatzes der linken Hand beim Ziehen des Schwertes, verstand ich plötzlich. Es verbirgt sich hier ein Prinzip des (vor den Augen des Gegners) verborgenen Näherbringens der eigenen Klinge an den Gegner. Beginnt dann der eigentliche Schnitt, hat man bereits Weg gut gemacht. Des weiteren fanden sich in Hamamotos Kata weitere aus dem Karate bekannte Prinzipien, wie das kurze Vorsetzen des linken Fußes (Karate Passai / Bassai Kata z.B.) oder die stapelartige Haltung beider Fäuste an einer Hüftseite (Karate Pinan/ Heian Yondan und viele weitere Kata), bevor dann eine seitliche Armbewegung folgt.

Ich konnte in den Folgemonaten durch viel Training und das reichliche Material, welches in dieser kurzen aber intensiven Zeit entstand, sehr viele Details erarbeiten. So trainiere ich im Hachiman Ryu die Kata Jyūmonji, Yuki hidari kirisage, Nuki migi kirisage, Hidari hien, Migi hien, Hidari mae atari, Migi mae atari, Hidari rentachi, Migi rentachi, Go ran tot, Ran pa tou und Mukoutsuke. Im Mugai Ryu sind es die Hashiri Gakari (Lauftangriff) Kata Mae goshi, Musō gaeshi, Mawari gakari, Migi no teki und Shi ho. Im Goō sind es die Kata Munetsuku shi, Enyō, Ryō guruma, Nō kuri und Gyokkō. Video der Kata Nō Kuri.