Im September 2019 sind zwei der Lehrer des Oshiro Dojo Hamburg nach Okinawa geflogen, um an einem einwöchigen, intensiven Instruktorenlehrgang mit Oshiro Shihan (9. Dan) teil zu nehmen. Shihan Oshiro lud alle weltweit tätigen Instruktoren zu diesem Seminar ein. Es wurde an 5 aufeinanderfolgenden Tagen 5 Stunden täglich trainiert. Ein anstrengendes Pensum, jedoch sorgen okinawanisches Klima, eine sehr gute Trainingsatmosphäre zusammen mit den vielfältigen Bewegungen der Kampfkunst für eine hohe Belastbarkeit von Körper und Geist. So berichtete mir einst ein Okinawabesucher, dass in der Heimat vorhandene Gelenksschmerzen auf Okinawa nach wenigen Tagen verschwinden würden. Testen konnte ich es nicht, da ich glücklicher Weise bisher von solcherlei Problemen verschont bin.
Auffallend war der für meine Verhältnisse sehr geringe Schlafbedarf. Wie auch immer, Okinawa fühlt sich wie ein Stück Heimat an, bewegen wir uns doch bereits seit fast 30 Jahren nach Bewegungsprinzipien und einer Bewegungsphilosophie, welche hier ihre Wurzeln haben. Man findet sich schnell im gesamten Hauptstadtbereich zurecht, ganz ohne Auto.
10. September 2019
Wir haben während des 11 stündigen Fluges nach Osaka und des 2 stündigen Fluges nach Okinawa kaum geschlafen. Sind gut in Okinawa angekommen und holen erstmal Schlaf nach. Das Budokan steht mit klimatisierten Trainingsräumen bereit. Draußen herrscht tropisches Klima.
Das Training beginnt
Das Training im Budokan hat begonnen. Der erste Tag drehte sich um die Bewegungsgrundlagen. Die Art und Weise der Bewegungsmotorik, welche sich in die Kata fortpflanzt, beinhaltet bereits einen Vorläufer bzw. eine erste Form des Bunkai. Diese Art des Bunkai scheint zu Zeiten der Verbreitung des Karate nach ausserhalb auf Okinawa geblieben zu sein. Sie umfasst den Schutz der eigenen Vitalpunktlinie (Seichusen) während und nach jeder Bewegung. Diese Linie besteht aus den empfindlichsten Schwachpunkten unseres Körpers und Treffer zeigen hier jederzeit Wirkung.
Die bekannte konventionelle Art des Bunkai isolierter Sequenzen der Kata wie Rohai, Chinto und Kushanku wurde natürlich ebenfalls trainiert. Shihan Oshiro ist sehr gut drauf und wir genießen die intensiven Trainingstage.
Das Hiki-Te beschreibt die in der Karate Grundschule und in den Kata und vielen Partnerübungen zur Hüfte zurückgezogene Faust, während der andere Arm eine Technik ausführt. Das Bewegungsmuster eines Karate Fauststosses entspricht dem eines Bo Schlages im Yamanni-Ryu. Hiki-Te ist das grundlegendste Prinzip im Bo Handling überhaupt. Die symbiotische Einheit von Karate und Kobudo ist eines der markantesten und wesentlichsten Merkmale der okinawanischen Kampfkunst.
Hierzu gehört eine weitere bemerkenstwerte Idee: Die Okinawaner flochten die kämpferischen Bewegungen sogar in ihre Volkstänze ein. Die Kata des Yamanni-Ryu bestehen zum großen Teil aus Bewegungen, die man mit den entsprechenden Waffen, aber ebenso unbewaffnet ausführen kann. Kata sind so aufgebaut, dass Sai oder Bo automatisch auch als »gegnerische Waffen« oder »Gegner« fungieren. Sie kommen auf uns zu und unser Körper muss sich beim Vorgehen entsprechend anpassen, um nicht getroffen zu werden.
Auf das Karate Bunkai bezogen sehen die Techniken den eigenen Bo als Gegner oder dessen Extremität an, den man sich hilfsweise ja als “länglichen Gegenstand” vorstellen kann und den es zu manipulieren gilt. Dabei wird die Tatsache klar, dass die Kraft, die den Bo bewegt, nicht größtenteils aus den Armen kommen sollte. Arbeitet man mit dem eigenen Körper und dessen Gelenken nicht präzise, dann bewegt sich auch der Bo eher störrisch und nicht »schneidend« durch die Luft. Analog kann man einen Gegner nicht einfach aus der eigenen Armkraft heraus werfen oder dessen Gelenke manipulieren. Auch im Karate will man möglichst viel Kraft aus der gesamten Körpermotorik schöpfen und nicht lediglich aus den Armen und Beinen. Das Training mit Bo und Sai hat einen hohen Stellenwert bei vielen alten okinawischen Meistern (z.B. Funakoshi Gichin) genossen.
Ein sehr flexibler Körper entwickelt sich, wenn man den starren Bo zu beherrschen lernt. Durch das Waffentraining wurde zusammen mit dem kampfkunsttechnischen Aspekt einhergehend eine Art “Gerätetraining” für die Ausbildung und Kräftigung der Muskeln und Gelenke geschaffen. Auch die Greifmuskulatur oder »Fingerkraft« wird gestärkt. Im Yamanni-Ryu verwendete Sai sind nicht so massiv wie in anderen Kobudostilen üblich. Massive Sai, wie sie heute als »Standardausführung« in den Kampfsportgeschäften erhältlich sind, wurden früher vermutlich eher für das sogenannte »Hoju-Undo« (Krafttrainig) verwendet, jedoch nicht für den Kampf oder das Kampftraining. Im Kampf sollten sie leicht zu verbergen (Kakushi Buki – Prinzip der verborgenen Waffe) und blitzschnell einzusetzen sein. Diese Art von Sai ist also leicht und schlank gehalten, was einen sehr dynamischen und flexiblen Umgang erlaubt, ohne dem eigenen Körper durch Überbelastung der Gelenke zu schaden.
Hartes Holz gab es auf Okinawa zur Genüge, Stahl war schwierig zu beschaffen. Die im Yamanni-Ryu verwendeten Bo sind unkonisch (haben also einen gleichbleibenden Durchmesser), denn es heißt »der Bo soll zwischen den Händen leben«. Konische Bo werden dagegen in den meisten Stilen immer gedrittelt gehalten. Welches Ende des Bo länger und welches kürzer wird, entscheidet sich im Yamanni-Ryu fließend, je nach den Erfordernissen der Situation. Die Hände passen die eingesetzte Bolänge der jeweiligen Technik sowie der Distanz zum Gegner andauernd an, was den Gegner verwirren kann. Das lange Ende des Bo wird »in den Kampf« geschickt, so dass man den eigenen Körper weiter hinten halten kann. Hier besteht eine Analogie zur Haltung eines Schwertes. Durch das Handling des Bo kann dieser in Schlag-, Stoß- und Stichtechnik wie ein Schwert, eine Hellebarde oder ein Speer eingesetzt werden. Mit einer aufgesteckten Klinge lassen sich die Schnitttechniken des Kobujutsu veranschaulichen.