„Wenn eine körperliche Auseinandersetzung unvermeidbar ist, zeige keine Absicht anzugreifen, lasse den Angreifer unvorsichtig werden. Genau in diesem Moment greife ihn an, die eigene Kraft gebündelt in eine Aktion auf empfindliche Körperstellen. Im Überraschungsmoment fliehe und suche Schutz oder Hilfe. Wie wichtig es ist, bei der einen Aktion gegen den Angreifer seine ganze Kraft einzusetzen und besonders genau zu treffen, kann nicht genug betont werden“ (Funakoshi Gichin)


Wendepunkt in der Tradition.
Die Herausforderung des Gruppentrainings. Die Karatelehrer unterrichteten vor 1900 nicht öffentlich, hielten ihre Gruppen klein und suchten sich ihre Schüler selbst aus. Dagegen steht das umgekehrte moderne Prinzip, wie der Lehrer zum Schüler kommt. Hierbei sucht sich Schüler seinen Lehrer aus oder ein Lehrer unterrichtet im von extern gegebene Vereins-, Schul- oder Militärgruppen.
Je größer eine Trainingsgruppe wird, umso oberflächlicher, systematisierter, vereinfachter und auch militärisch anmutend strukturiert muß der Unterricht sein.
Möchte man die Kampfkunst einer möglichst breiten Masse schmackhaft machen, sind deshalb Einschnitte notwendig. Ein gewissenhafter Lehrer muß sich außerdem fragen, wie er sicherstellt, dass seine Schüler die gelernten Techniken nicht missbrauchen.

Große Gruppen erfordern Vereinfachungen. Shiroma Shinpan (1890-1954) unterricht 1938 vor dem Schloss Shuri. Wer genau hinschaut bemerkt, dass Shiroma die hintere Hüftseite anders positioniert, als die meisten der Schüler. Shiroma benutzt die alte Form.

Diesen letzten Aspekt hatte bei den MeisterN der alten Tradition oberste Priorität inne. Auch Anko Itosu und Funakoshi Gichin haben das Karate entschärft, da sie im Massenunterricht nicht mehr selber entschieden, wer ihr Schüler wird.
Derartigen Herausforderungen sahen sich die Meister der ersten öffentlichen Karatestunden gegenüber gestellt, als sie begannen, das Karate zunächst um 1905 im Schulsport auf Okinawa (maßgeblich durch Anko Itosu 1832-1916) und dann um 1920 auf der Hauptinsel Japan (durch Funakoshi Gichin 1868-1957, Mabuni Kenwa 1889-1952 und etwas später auch Motobu Choki) publik zu machen und zu verbeiteten.


Besonders Funakoshi Gichin ist für seinen wichtigen Beitrag zum großen Erfolg der Verbreitung des Karate bekannt. Er wird daher oft der »Vater« des modernen Karate genannt und hat mehrere Bücher zum Thema Karate verfasst. Die Bezeichnung »Vater« trifft dabei nicht wirklich  auf ihn zu, wenn man Itosus vorhergehendes Wirken in dieser Richtung mit in Erwägung zieht. Itosu ist es auch, dem die Entwicklung der ersten moderneren Kata zugeschrieben wird. Itosu nannte diese Katareihe chinesisch geprägt Pinan, Funakoshi benannte sie später in japanisch geprägt Heian um.

Funakoshi Gichin bezeichnet Anko Azato und  Anko Itosu als seine wichtigsten Lehrer. Bereits als Kind trainierte er bei Azato, welchen er als sehr strengen Lehrer bezeichnet. Funakoshi benennt Azato (1827-1906) als seinen Hauptlehrer. Azato war Meisterschüler Sokon »Bushi« Matsumuras und auch im Schwertkampf Jigen-Ryu geübt. Von ihm stammt das Zitat »Stelle dir Hände und Füße beim Karate als Schwerter vor«.

Funakoshi Gichin im Vordergrund

Bei Azato durchlief Funakoshi das etwa 10 Jahre dauernde Training der drei Naifanchi (Tekki) Kata. Neben den drei Naifanchi Kata waren die Passai und die Kushanku Kata offenbar die einzigen Kata, mit denen sich Funakoshi intensiv beschäftigte. Zur damaligen Zeit war das Studium von 5 Kata keine geringe Zahl, da sehr viel Wissen und Körperarbeit anhand der Kata vermittelt wurde. Heute steht oftmals eher eine große Anzahl verschiedener Kata auf den Wunschzetteln, was eine intensive Beschäftigung mit den einzelnen Kata  ausschließt. So haben manche  Karatestile bis zu 40 Kata im Angebot! Weitere Lehrer, bei denen Funakoshi Unterricht genoss, sind Sensei Kiyuna, To’nno aus Naha, Niigati und der berühmte Sokon Matsumura selbst.

Funakoshis Karatelinie, welche seine Schüler Shotokan tauften, hat ihre heutige Form eher durch den Einfluss von Gichin Funakoshis Sohn (Yoshitaka) und etwas später durch die JKA (Japan Karate Association) Instruktoren erhalten. Deren bekanntester Meister dürfte Masatoshi Nakayama sein, welcher in späten Lebensjahren sagte, dass er aufgrund seiner vorgenommenen Veränderungen an Funakoshi Gichins Lehre, nach dem Tode Angst hat, Funakoshi Gichin gegenüber treten zu müssen. Im Twist mit Nakayamas Veränderungen, spalteten sich um 1955 Funakoshis Anhänger in Shotokan und Shotokai.


Anko Itosu – der eigentliche „Vater“ des modernen Karate. Wenn es um die ersten öffentlichen Unterrichtseinheiten an okinawanischen Schulen, erste Umgestaltungen des Karate für den Gruppenunterricht und um die ersten Publikmachungen des Karate geht, so steht Itosu Anko (1832-1916) im Mittelpunkt. Die Lehrer, die Itosu am meissten geformt haben, sind Matsumura und Gusukuma.

Es gibt leider kein Foto von Itosu Anko. Dieser Kendolehrer der alten Schule wird fälschlicher Weise oftmals für ihn gehalten.

Itosu wurde in Shuri geboren und begann in jungen Jahren das Studium des Karate bei Sokon Bushi Matsumura. Beruflich hat Itosu später die Sekretärsposition für den König im Schloss Shuri besetzt. Es ist bemerkenswert, dass sich der letzte amtierende König Okinawas, Sho Tai, nicht nur mit Leibwächtern wie Sokon Matsumura umgab, die in der Kampfkunst ausgebildet waren, sondern das sogar der Sekretär ein bekannter Meister des Karate war. Mit der Entthronung des Königs Sho Tai in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts verloren seine kampftechnisch bewanderten Angestellten jedoch ihre gehobene Stellung und ihre Ämter. Dies könnte dazu beigetragen haben, dass die okinawischen Meister ihre Schülerzahl bereits zu dieser Zeit leicht vegrößerten. So hatten sie eine zusätzliche Einnahmequelle und unterrichteten kleine Gruppen im eigenen Zuhause.

1905 – Itosus Brief. Itosu schrieb um 1905 einen Brief an die okinawanische Bildungsinstitution und bewarb die Idee der Einführung eines entschärften Karate in den Sportunterricht okinawanischer Schulen. In diesem Brief erklärte er die verschiedenen positiven Aspekte im Zusammenhang mit der Ausübung des Karate. So schreibt er von der Ausbildung eines starken und gesunden Körpers und von der Stärkung innerer Eigenschaften.
Auch geht er auf die Beziehung des Karate zu ernsthaften Auseinandersetzungen ein, schreibt das es nicht für den Wettkampf gedacht sei. Itosu hebt den militärischen Nutzen des Trainings besonders hervor. Er vollzieht eine Anlehnung an ein Sprichwort, nach dem sich erfolgreiche Ausgänge zukünftiger Kriege bereits frühzeitig beeinflussen lassen. Nämlich durch Konditionierung der Menschen bereits während ihrer Schulzeit. „Verläufe künftiger Kriege würden bereits auf den Schulhöfen entschieden werden.“

Nach Itosus Prognose könnte man das Karate innerhalb von 10 Jahren in ganz Okinawa und auch auf der Hauptinsel Japan verbreiten. Itosu hinterließ einige wichtige Schriften, u.a. stellt er einen wesentlichen Grundsatz fest: „Shorin Ryu und Shorei Ryu kamen vor langer Zeit aus China nach Okinawa. Wir glauben, dass beide Stile unterschiedliche Vorteile haben und nicht verändert oder kombiniert werden sollten…“. Dagegen steht Funakoshis Idee und Streben, die Vorteile der beiden Richtungen in einem Stil vereinigen zu können. So bewegt man sich im Shotokan auf schlittschuhartigen Innenbahnen wie im Goju Ryu, während die Stände selbst dem Shorin Ryu entstammen. Hier ist eine Vermischung beider Ur-Linien zu erkennen.

Itosu Anko hatte Erfolg und lichtete um 1905 den Schleier um das bis dato verborgen geleitete Training und führte Karate an den ersten Schulen Okinawas ein. Dies waren die ersten öffentlichen Karateschulen. Itosu wird daraufhin die Entwicklung der Pinan Kata als Lehrplankata für den Schulunterricht zugeschrieben. Ob er die Pinan Kata wirklich entwickelt hat, ist jedoch umstritten. Pinan geht auf das Chinesische zurück und bedeutet soviel wie „bleibe sicher“. Die Pinan Kata enthalten Techniken höherer Kata, welche auf entspechend hohem Niveau ausgeführt werden können. Sie eignen sich für und gegen alle möglichen Arten von Angriffen. Funakoshi benannte die Kata um in  “Heian” Kata (friedvoller Geist), unter dieser Bezeichnung verbeitete er sie auf der Hauptinsel Japan und sie gingen in das Shotokan System ein. Auch die korkenzieherartige Ausführung des geraden Fauststosses soll durch ihn in ihre endgültige Form gebracht worden sein. Itosu wurde in Anerkennung seiner Fertigkeiten respektvoll die “Heilige Faust des Shuri-Te” genannt. Neben Gichin Funakoshi zählte auch Kenwa Mabuni (Begründer des Shito-Ryu) zu Itosus ca 6 ausgesuchten privaten Schülern.


Itosu nimmt der Kata den Gegner. Für den Schulunterricht hat Itosu den Gegner aus den Kata entfernt und die Techniken teilweise verändert (siehe Kata). Ein geeignetes Karate für die Heranwachsenden Okinawas sollte geschaffen werden. Karate als Kampfkunst zu lehren, wurde als zu gefährlich für Jugendliche eingestuft. Man fürchtete nicht nur, dass sich die Jugendlichen beim Unterricht unnötig oft verletzen würden, sondern auch, dass sie das Wissen missbrauchen könnten. Itosu wandelte manche ursprüngliche Technik der offenen Hand in Stoss- und Blocktechniken mit geballter Faust und vereinfachte die Prinzipien, die hinter der Dynamik der Kata steckten. Gleichzeitig lenkte er den Fokus auf den zu wiederholenden Ablauf der Kata. Die für einen Kampf nötige, aggressive Lehre der Anwendungen und der entsprechenden Bewegungsmotorik geriet in die Verborgenheit. Den Jugendlichen sollten durch diesen Unterricht keine potentiell gefährlichen Kampftechniken beigebracht werden. Der positive Aspekt der körperlichen Ertüchtigung stand im Vordergrund und nicht die Prinzipien der Kampfkunst. Der frühe öffentliche Unterricht des Karate um 1900 fand an mehreren okinawanischen Schulen statt. Hier unterrichtete nicht Itosu alleine, sondern bekannte Meister wie Hanashiro Chiyoumo, Yabu Kentsu, Kyan Chotoku schlossen sich direkt oder etwas später an.
Schaut man genau hin, erkennt man an den modernen Kata, dass der Gegner nicht mehr wirklich vorhanden ist. Die Bewegungen entlang des Enbusen (der Ablauflinie) sorgen dafür, das Techniken vor allem bei 90 Grad Wendungen am Gegner vorbei gehen. Oftmals wird der Körper über ein Bein rotiert während das andere Bein den gesamten Weg geht. Bei anderen Techniken sind deutliche Versätze zu sehen. Bei der alten Ausführungsart der Kata ist es von höchster Bedeutung, die Angriffslinien zu spüren und beachten zu können. Es geht nicht ein Bein den ganzen Weg, sondern beide Beine sind aktiv, so dass sie sich den Weg teilen und damit bereits die benötigte Zeit halbieren. Gleichzeitig wird dadurch der Gegner nicht mehr verfehlt. Die Angriffslinien (das Seichusen) sind die direkten Wege der gegnerischen Waffen (z.B. Fäuste) zu unseren Vitalpunkten, jedoch auch die Wege unserer Waffen zu den gegnerischen Vitalpunkten. Dazu gehört die Lehre, wie man den Körper auf direktem Wege in neue Richtungen ausrichtet, ohne in Rotationsbewegungen zu geraten. Die Karatetechniken ermöglichen es, sich blitzschnell in alle Richtungen zu bewegen und dabei die eigenen Vitalpunkte verborgen zu halten oder zu schützen. Die Prinzipien um die Beherrschung des Enbusen und des Seichusen bezeichnet Shihan Oshiro als „Seele der Kata, des Karate“. Diese Prinzipien blieben, während das Karate öffentlich wurde und auf Weltreise ging, auf Okinawa und wurden nicht öffentlich unterrichtet oder nach Japan bzw. von dort aus in die ganze Welt mitgenommen.


1922 – Die okinawanische Kampfkunst gelangt nach Tokyo. Der damals noch in Okinawa wohnende Funakoshi Gichin wurde 1922 von der japanischen Regierung nach Tokyo geladen, um im Rahmen einer Vorstellung alter japanischer Kampfkünste, eine Vorführung des okinawanischen Karate zu geben. Im Falle der Anerkennung bestand die Möglichkeit, diese okinawische Kunst zu dort fortan weiter zu verbreiten. Die Sache hatte nach anfänglichen Startschwiergkeiten Erfolg und Funakoshi blieb von dieser Zeit an auf der Hauptinsel. Ursprünglich hatte er eigentlich vor, bald nach der Vorführung wieder nach Okinawa zurück zu kehren. Der Begrüder des Judo, Kano Jigoro, bat Funakoshi zu bleiben und öffnete ihm die notwendigen Türen in die japanische Kampfkunstgemeinschaft. Dazu gehörte die Organisation „Dai Nippon Butokukai“, welche als oberstes Organ entschied, was erhaltenswürdige Kampfkunst ist und was nicht. Funakoshi machte es dem Judo und Kendo gleich und hing ein »Do« an das Karate, womit er das rein kämpferische des Karate in den Hintergrund stellte und das Philosophische und Ganzheitiche betonte. Jujutsu und Kenjutsu wurden kurz zurvor ebenfalls entschärft und zu Wegkünsten geformt. Sollte dem geworfenen Gegner im Jujutsu möglichst keine Chance gegeben werden, sich abrollen oder abfangen zu können, so stand die Sicherheit des Geworfenen im Judo nun im Vordergrund.

Die Entscheidung in Tokyo zu bleiben, stellte ihn mehrmals auf harte Proben, da er zeitweise nichteinmal genug Geld für die nötigsten Dinge hatte. Die Verbreitung des Karate lief, finanziell gesehen, sehr schleppend an. Irgendwann jedoch nahmen aber sogar Universitäten und auch Militärakademien das Karate in ihr Programm auf. Funakoshis engere Schüler nannten sein neu erbautes Dojo in Toshima (Tokyo) später „Shoto-kan“. Eine Betitelung lehnte Funakoshi ab, letztlich setzte sich die Bezeichnung „Shoto-kan“ dennoch durch.

»Shoto« bedeutet Pinienrauschen und war Funakoshis Pseudonym für seine Signaturen künstlerischer Werke und »Kan« bedeutet so viel wie Schule. Dieses Dojo öffnete jedoch erst um 1935 seine Türen, nachdem für seinen Bau durch eine Spendenaktion genügend Geld zusammen kam. Zuvor unterrichtete Funakoshi nicht in einem eigenen Dojo. Trotz eines Alters von etwa 70 Jahren ging Gichin Funakoshi jetzt die Systematisierung und Reglementierung des Karate in vollen Zügen an. Seine Idee der Zusammenführung der beiden Karatelinien Okinawas beeinflusste ihn weiterhin. Itosu hielt begründeter Weise eine Zusammenführung für nicht sinnvoll, da beide Richtungen auf anderen Grundgedanken basieren. Bald konnte Funakoshi nicht mehr persönlich an all den verschiedenen Schulen und anderen öffentlichen und privaten Institutionen Karateunterricht geben und ernannte fortgeschrittene Schüler zu Assistenten, die ihm bei dieser Aufgabe halfen. Der Verbreitung des Karate auch außerhalb Tokyos stand nun nichts mehr im Wege.


Aus China Hand wird Leere Hand. Der Gebrauch des Kanji „Kara“ in seiner heutigen Bedeutung wurde erst 1933 maßgeblich unter Mitwirkung von Gichin Funakoshi und der Dai Nippon Butokukai offiziell festgelegt. Auf Okinawa wurde dieser Akt nach anfänglicher Ablehnung erst nach ca 3 Jahren übernommen. In Anerkennung des positiven chinesischen Einflusses auf die Entwicklung des Karate, übernahm man nämlich einst im okinawischen Sprachgebrauch ein Kanji, welches ebenfalls »Kara« gelesen wurde, aber auf die chinesische T’ang Dynastie (618-907 A.D.) deutet und mit »China Hand« übersetzt wurde. Bereits 1905 gebrauchte Hanashiro Chomo das Kara im Sinne von „leer“ in einer Publikation. Es ist also bereits vor 1933 nicht unbekannt gewesen obgleich der Gebrauch des Kanji für „China/ T’ang“ oder einfach nur „Di“ (jap. „Te“) auf Okinawa dominanter war.

China (T’ang) Hand

Für Gichin Funakoshi war es nicht klar, welche Bedeutung des Wortes »Kara« nun zu frühen Zeiten gemeint war. Der starke chinesische Einfluß auf die Entwicklung des Karate lässt sich kaum leugnen, siehe auch „Geschichte des Karate“. Funakoshi entstammte der Shorin-Ryu Linie, welche tatsächlich entfernter von den chinesischen Wurzeln ist, als die Shorei-Linie des Karate.
Um 1935 und sicherlich auch um der Schmackhaftmachung des Karate in Japan willen, führten u.a. Funakoshi und Hanashiro Chomo, anstatt des alten Zeichens das Zeichen „Kara – leer“ in den öffentlichen Gebrauch ein. Dieses heute gebräuchliche Zeichen hat die philosophisch behaftete Bedeutung „leer“. Gichin Funakoshi rechtfertigte diese Änderung u.a. mit der Tatsache, dass Karate eine okinawanische Entwicklung ist und sich daher von den chinesischen Kampfkünsten abgrenzen darf und sollte. Japan war zur Zeit der Publikmachung des Karate allem Chinesischen gegenüber negativ eingestellt. Von diesem Gesichtspunkt aus, war die Änderung des Kara vor allem ein strategischer Schachzug. Eine Kampfkunst mit chinesischer Herkunft wäre in Japan nicht akzeptiert worden.

Leere Hand

Die Bedeutung „leer“ des „Kara“ sagt zunächst aus, dass man sich ohne Waffen, mit bloßen Händen verteidigen kann. Hieraus entstand das bis heute verbeitetes Missverständis, welches dem Karate allgemein seine enge Verwandschaft zum Kobudo abschreibt. In Wirklichkeit ist das Shorin Ryu Karate jedoch eng mit dem Kobudo verknüpft. Dies betrifft  folgerichtung auch moderne Sprösslinge wie das Shotokan Karate, welches dem Shorin Ryu entspringt. Viele grundsätzliche Bewegungsprinzipien des (Shorin-Ryu) Karate entstammen dem Kobudo, besonders dem Umgang mit dem Langstock Bo. Zusammen erst ist diese faszinierende Kampfkunst komplett. Als besonders prägnantes Beispiel sei das Hiki-Te, die zurückziehende Faust genannt. Die eigentliche Bedeutung des Zeichens für „leer“ ist philosophisch geprägt, passend zu Gichin Funakoshis ausgeprägten philosophischen Hintergrund. So schreibt er in seinem Meistertext:

Form ist Leere, Leere ist die Form selbst. Das Kara des Kara-Te-Do hat eben diese Bedeutung.



Modernisierung und Technisierung des Karate.
Nicht nur Funakoshi Gichin veränderte das Karate, auch das Weltbild der Japaner beeinflusste die Interpretation der körperlichen Dynamik dieser Kampfkunst. Um 1922 begann Gichin Funakoshi Karate im Hauptland Japan zu lehren und erste japanische Instruktoren auszubilden. Die Physik des Karate bekam deutlich die Sichtweise eines von der Zeit der Industrialisierung geprägten, mechanisierten Weltbildes aufgedrückt. Vieles wurde durch die japanischen Instruktoren selbst interpretiert, da nicht genug Lehrer da waren, die die alten Prinzipien intensiv genug verbreiteten. Bekannt ist z.B. die Abbildung eines Menschen in Form eines mechanischen “Stangenmannes” mit ineinandergreifenden fest verbundenen Zahnrädern, Kolben und Gelenken. Entsprechend mußten sich die Bewegungen des Karate analog solcher sehr mechanisierten Vorbilder von manchem Beobachter als etwas roboterartig anmutend beschreiben lassen. Manche meinen irrtümlicher Weise, dass alte Karate wäre schwächer gewesen, weil die Haltungen okinawanischer Meister auf Bildern nicht so stark und heroisch aussehen wie Bilder moderner Karateathleten. Die Wirksamkeit einer Technik läßt sich nicht anhand ihres äusseren Erscheinungsbildes erkennen. Die okinawische Körperdynamik spielt sich im Inneren ab und will möglichst wenig nach Aussen verraten. Auch die Anwendungen der Techniken und Prinzipien des okinawischen Karate haben eigentlich keinen Verbesserungsbedarf gehabt. Die »alten« okinawischen Meister des Karate widmeten einen Großteil ihres Lebens dem Training und dem Austausch von Erfahrungen. Der Mensch hat sich (körpereigene Waffen, Stärken und Schwächen) in seiner Anatomie nicht verändert seitdem. Daher kann man davon ausgehen, dass die alten Techniken ausgefeilt waren und an sich keiner kampftechnischen »Modernisierung« bedurften. Leider mußten die japanischen Instruktoren selbst interpretieren, da die Prinzipien, die Bedeutung und Anwendung der Techniken schon immer nur in kleinen Kreisen weitergegeben wurde. Usprünglich suchten sich die Meister ihre wenigen Schüler selber aus und manch ein Meister nahm sein Wissen lieber mit ins Grab, als es vor größeren Gruppen offen zu legen.

Das Training auf der Hauptinsel Japan beginnt. Nachdem Funakoshi das Karatetraining in Tokyo um 1922 eröffnet hatte, stellte sich Takeshi Shimoda als talentiertester Schüler heraus.  Shimoda war auch ein Experte im Kendo und Ninjutsu und übernahm ca 1930 die Tätigkeit als Lehrer für Funakoshis Schüler und leitete verschiedene Vorführungen des Karate. Um 1934 starb er jedoch nach einer Erkrankung kurz nach einer Vorführungsreise durch verschiedene Städte Japans.

An Shimodas Stelle trat Funakoshi Gigo, welcher der drittälteste Sohn von Gichin Funakoshi war. Die japanischen Schriftzeichen seines Vornamens können »Gigo« aber auch »Yoshitaka« gelesen werden. Daher sind beide Namen im sprachgebräuchlichen Umlauf. Gigo Funakoshi zeichnete sich zu diesem Zeitpunkt durch die fortgeschrittenste Technik unter Gichin Funakoshis Schülern aus. Er erlangte schnell die Achtung und den Respekt, den er als Assistent und Nebentrainer Gichin Funakoshis brauchte. Er wurde “Waka-Sensei« genannt, was »junger Lehrer« bedeutet. Seinen Vater nannten die Schüler dagegen »Ro-Sensei« in der Bedeutung von »alter Lehrer«. »Alt« hat in dieser Bedeutung natürlich nicht den negativen Hauch eines alten gebrechlichen Mannes, im Gegenteil. Der Zeitzeuge Shigeru Egami berichtet von der unglaublichen Härte der Fauststöße Gigos am Makiwara. Aus einer Kiba-Dachi (= Reiterstellung) artigen Stellung, mit locker herunterbaumelnden Armen, schlug er blitzschnell zu ohne das man größeren Hüftgebrauch sehen konnte. Anhand der Reaktion des Makiwara kamen keine Zweifel über die Effektivität seiner Schläge auf. Er war der einzige aus der Shotokanriege, der es schaffte, ein Makiwara zum Zerbrechen zu bringen. So galt er als positives Beispiel und seine Technik als anzustrebendes Ziel, welches es zu erreichen galt unter den Funakoshi Schülern. Gichin Funakoshi selber war offenbar nicht begeistert, wenn sein Sohn mal wieder ein Makiwara oder beim Stampftritt eine Holzbodenplanke zerbrochen hatte. Funakoshi Gigo hatte sein Leben lang mit den Einschränkungen einer unheilbaren Krankheit zu kämpfen und starb recht früh im Frühling 1945. Die Einschätzungen der Ärzte hatten im solch eine, den Umständen entsprechend hohe Lebenserwartung, nicht prognostiziert. Die letzten Jahre hatte er all seine Energie in den Aufbau des Shotokan und eine Weiterentwicklung des Stils seinen Ansichten gemäß gesteckt. Die Zerstörung des Dojos im 2. Weltkrieg hatte ihm zusätzlich seelisch erheblich zugesetzt. Gigo Funakoshi ist es gewesen, der das Gesicht des heutigen Shotokan geprägt hat. Shigeru Egami vermutet, dass die Zerstörung des Shotokan Dojo letztlich zuviel für ihn gewesen ist und er so den Halt am Leben verloren hatte.

Nun trat Shigeru Egami (1912 – 1981) in die Position des Assistenten von Gichin Funakoshi und entwickelte dessen Erbe später in Gestalt der Shotokai Organisation weiter. Egami hielt sich streng an die Maßgaben des inzwischen verstorbenen Gichin Funakoshi. Es kam zu einer Aufspaltung unter den Shotokan Anhängern. Besonders die von Egami geforderte Abstinenz vom Wettkampfgeschehen war ein Streitpunkt. Masatoshi Nakayama, der damals die jüngere Generation von Shotokan Schülern wiederspiegelte, gründete nach seiner Abspaltung um 1955 die JKA und nahm den Wettkampftauglichkeitsgedanken fortan verstärkt in das Shotokan auf. Nakayama bekräftigte jedoch, sich in Hinblick auf die technischen Grundlagen weiterhin genau an Funakoshis Vorgaben gehalten zu haben.


Karate und Kobudo verbreiten sich ungleich. Während sich das Karate im 20. Jh. durch Vorführungen, Shows und Wettkämpfe rasant verbreitete, trat diese Entwicklung im Kobudo viel gedämpfter auf. So gibt es heute viele Karateka von denen sich nur sehr wenige mit den alten Waffen beschäftigen. Eben diese Waffen hatten jedoch auf Technik und Kata des Karate grossen Einfluss. Dies ist schade und es ist an der Zeit für mehr Aufklärung. Shihan Toshihiro Oshiro begann sich diesem Ziel bereits vor einigen Jahrzehnten zu widmen und gründete den RBKD. Aus seiner Arbeit sprossen bereits einige Oshiro-Dojos in Deutschland. Zwar bedeutet die Kombination von bewaffneten und unbewaffneten Training auch intensivere Arbeit, diese zahlt sich jedoch aus. Mangelndes Wissen und Training im Zusammenhang mit der engen Verflechtung des alten Karate mit dem Langstock Bo führt ansonsten zu fehlenden Erkenntnissen in Bezug auf die Ausführung der Karatetechniken. Dies beginnt bereits beim Bilden der Faust, der offenen Hand oder dem Einsatz der Muskeln und Gelenke. Der traditionelle Umgang mit dem Bo bietet grundlegendes Training, welches ansonsten fehlen würde. In kämpferischer Sicht beherbergt die Herausforderung einen höchst flexiblen Umgang mit einem ansich starren Objekt wie dem Bo zu meistern starkes Potential. Ergebnis des Trainings ist u.a. ein äusserst geschmeidiger und starker Körper, der auch noch im mittleren und höheren Alter einsatzbereit ist. Mit Sai oder Bo ausgerüstet kann man auch im Freien trainieren. Dies ergibt ein spannendes und vielseitiges Trainingsprogramm für Körper und Geist. Techniken oder Kata können je nach Bedarf langsam und entspannend oder schnell und kräftig ausgeführt werden. Mehr zum Thema Kobudo hier.